Maß aller Libero-Dinge
Für einen Weltklassemann viel zu ruhig
Seine Name wurde von vielen tausend Tribünenbesuchern, aber auch von in- und ausländischen Kickern ehrfürchtig über die Lippen gebracht. Nicht nur viele junge Fußballer bewunderten den Ausnahmekönner. Von der Eleganz seiner Bewegungen und der Geschicklichkeit seiner Füße ließen sich besonders die Menschen im Dresdner Dynamo-Stadion verzaubern. Die gewiß seltene Gabe, Spielzüge zu lesen, vorauszudenken und dank seiner Qualitäten als Spielmacher und Libero auch entsprechend umzusetzen, machten ihm zum Ausnahmekönner. Der Feinmechaniker auf dem grünen Rasen beherrschte die sanfte Kunst wie kaum ein anderer. Dem Tackling zog er selbst in kniffligsten Situationen ein Kabinettstückchen vor. Leichtsinn wurde ihm deshalb oft vorgeworfen, was für ihn nur die Leichtigkeit war. Sein Stil, der Übersicht, Schlitzohrigkeit und Verstand verriet, machte Feude. Die Fußballfreunde verehrten ihn - ihren Dixie Dörner.
Ein simpler Ball hat sein Leben bestimmt. Er war über Jahre wichtiger als Familie, Freunde und Freuden. Von Montag bis Samstag, mitunter auch sonntags, bestimmte die Kugel den Rhythmus seines Lebens. Als 16jähriger wurde Dixie entdeckt. Der legendäre Kurt Kresse holte den Halbrechten der Jugendbezirksauswahl aus Görlitz nach Dresden und setzte damit fort, was Vater Paul begonnen hatte. Beiden ist er noch heute besonders dankbar, waren es doch die ersten Schritte auf der Karriereleiter. Aber schon beim UEFA-Junioren-Turnier 1969 in der DDR bekam Dixie zu spüren, daß es die Glücksgöttin meist nicht gut mit ihm meinen sollte. Im Finale fiel die Entscheidung durch das Los, natürlich für Bulgarien. Dabei geriet fast in Vergessenheit, daß Dörner als eine der Turnier-Entdeckungen nicht nur zum ersten Mal international in den Schlagzeilen stand, sondern für den Ernstfall auch als Ersatztorhüter vorgesehen war. Aus einem Trainingsspaß, wo er die gelernten Schlußleute recht passabel vertreten hatte, wurde Ernst. Deshalb war auch nur ein richtiger Torwart nominiert worden.
In die Dynamo-Mannschaft kam der junge Dörner als Mittelstürmer, Trainer Fritzsch hatte es so gewollt, ihn zwischendurch auch schon mal ein paar Spiele auf der Bank schmoren lassen. Im Mittelfeld der Dresdner und in der DDR-Auswahl verdiente sich Dixie seine ersten Sporen, als Libero prägte er an der Elbe den Kreisel. Trotzdem blickt Hans-Jürgen Dörner nicht auf eine Traumkarriere zurück. Als die einzige WM-Teilnahme der DDR anstand, zog ihn eine Gelbsucht neun Monate lang aus dem Verkehr. Danach bleibt unter dem Strich nur ein trauriges Fazit, gezogen im Oktober 1981 nach dem 2:3 gegen Polen, als der WM-Zug wieder einmal ohne seine Mannschaft abgefahren war, allgemeingültig jedoch für sein ganzes Fußballerleben: „Mir gelingt einfach nicht der große Wurf, weder bei Dynamo, noch im Nationaldreß." Was blieb, waren der Olympiasieg 1976 in Montreal, das doppelte Doppel mit Dynamo, fünf Meisterschaften und ebenso viele Pokalerfolge, insgesamt 62 Europapokalspiele, wenigstens ein Hauch von internationalem Ruhm. Nach seinem 100. Länderspiel in Babelsberg gegen Luxemburg war für Dörner in der Auswahl Schluß. Wo anderswo eine Welt- oder Europaauswahl zum Abschied eingeladen wird, bekam Dixie vom DFV ein paar Zinnbecher und einen Blumenstrauß.
Was muß aber erst in ihm vorgegangen sein, als er, 35jährig, von heute auf morgen die Töppen ganz ausziehen durfte. Bei Dynamo wurde er einfach abgeschoben, und das nur, weil der neue Trainer Eduard Geyer es zur grundsätzlichen Bedingung für seine Arbeit gemachte hatte? Ein Fußball-Denkmal sagte 1986 ganz leise Servus und durfte als Dank für seine Verdienste die Junioren als Trainer übernehmen. Ein Wechsel zu einem anderen Klub oder zu einer BSG zum Ausklingen seiner Karriere hatten ihm die Dynamo-Funktionäre damals untersagt. Dennoch sorgte er in Dresden weiter für Furore. Er nahm das Angebot einer Volkssportmannschaft an, die ihn dringend für den Kampf um den Klassenerhalt brauchte. Dieses Team, der Abstieg war beld kein Thema mehr, wurde mit dem 100fachen Auswahlspieler dreimal in Folge Pokalsieger bei den Freizeitkickern.
Dörners Schatten war aber in Dresden so groß, daß alle Nachfolger auf seiner Lieblingsposition der Verzweiflung nahe waren. Jeder Libero wurde stets an ihm gemessen, egal ob Frank Lieberam, Karsten Neitzel, Andreas Wagenhaus oder Matthias Maucksch. Aber auch Reinhard Häfner, Geyers Nachfolger auf der Dynamo-Bank, wäre nie auf die Idee gekommen, mit Dixie im Trainergeschäft zusammen zu arbeiten. Sein Assistent wurde Hartmut Schade und Dörner sammelte zwei Jahre lang Erfahrungen bei der Arbeit mit den Dynamo-Junioren. Der gebürtige Görlitzer leidet nicht an Profilsucht. Er wurde zwar im Mai 1990 in den Vorstand des neuen 1. FC Dynamo Dresden gewählt, hielt sich dort aber merklich zurück. Was sollte ein Fußballexperte auch gegen eine Flut von Möchtegern-Funktionären ausrichten? Möglich, daß ihm das inzwischen leid tut? Jedenfalls paßte dieser stille Mann und nicht der letzte Auswahltrainer „Ede" Geyer in das Konzept des DFB. Besser diesen Job, als gar keinen, wird sich Dixie Dörner gedacht haben und nahm den Posten als Nachwuchs- und Olympiaauswahltrainer an. Er durfte vor allem deshalb in der Frankfurter DFB-Zentrale arbeiten, weil er zunächst sehr viel lernen mußte. Zur Belohnung nahm ihn Berti Vogts als Assistenztrainer neben Rainer Bonhof mit zur Europameisterschaft nach Schweden.
Zwölf Tage vor dem Eröffnungsspiel zwischen Schweden und Frankreich testete der Weltmeister in Gelsenkirchen gegen die Türkei seine EM-Formation. Dynamo-Präsident Ziegenbalg war in diesen Tagen auf der Suche nach einem neuen Trainer und klingelte am Abend vor dem Länderspiel bei Hans-Jürgen Dörner in der Sportschule Malente an. „Dixie, willst Du Trainer in Dresden werden?" Dörner überlegte nicht lange: „Warum eigentlich nicht?", worauf der gerade von Helmut Schulte im Stich gelassene Ziegenbalg forderte: „Dann pack´ Deine Sachen und komm´nach Hause!" Doch Dörner ließ sich nicht überfahren: „Na, na, na, so schnell geht´s auch wieder nicht. Mit Berti Vogts möchte ich vorher schon noch sprechen." Ziegenbalg, in seinen Entscheidungen immer ungestüm, gab Dörner nur wenige Stunden Bedenkzeit bis zum Abend. Der sprach mit dem Bundestrainer und meldete nach Dresden: „Die EM muß ich auf alle Fälle mit durchziehen. Dann würde mich Vogts ziehen lassen." Ziegenbalg dauerte das zu lange und er klingelte noch am gleichen Abend bei Manager Klaus Sammer.
Heute steht Dixie Dörner über vielen Dingen. Er gibt ehrlich zu, sich als Abwehrorganisator für bittere Stunden wie das 2:3 gegen die Niederlande, das 0:5 in Wien, besagtes 2:3 gegen Polen oder das 3:7 in Uerdingen verantwortlich zu fühlen. Die spielentscheidenden Fehler geschahen stets in der Hintermannschaft. Mit Sicherheit war er, der „Beckenbauer des Ostens", viel mehr Regisseur als Abwehrchef. Der Kampf war nicht sein Feld und der fehlende Nachweis, in der tobenden Schlacht bestehen zu können, hat ihn vielleicht das Stückchen gekostet, das ihm zu den Weltbesten fehlte. Im Spiel nach vorn schuf er die überraschenden Momente, doch bei seinen Vorstößen konnte er sich, in Dresden mehr als in der Auswahl, auf seine Mitspieler verlassen. Die Helm und Sammer, Ganzera und Wätzlich, vor allem aber Schmuck, auch Trautmann, sicherten ab, wenn Dixie das Spiel an sich riß. Rollten aber die gegnerischen Angriffslawinen versagte Dörner und mit ihm brach die Gegenwehr der Hintermannschaft regelrecht zusammen. Die Mitspieler unter diesem Druck zu motivieren, die Abwehr als Turm in der Schlacht zu organisieren waren Dörners größte Schwächen. Heute bekennt er ehrlich, was er als Spieler nie bereit gewesen wäre, zuzugeben. Auch ein genialer Spieler wie der Dixie ist eben auch nur Mensch und lernt nie aus. In der Zwischenzeit hat er eines mitbekommen. Zum Fußball zählen neben den vorhandenen Leistungen auch die Leute, die es verstehen, den Marktwert eines Profis in den richtigen Momenten in die Höhe zu treiben. Dörner lebte in Dresden nur von der Öffentlichkeitsarbeit. Als sein Nachfolger in der DDR-Auswahl, Frank Rohde, zum Hamburger SV in die Bundesliga wechselte, wurde aus dem zweitklassigen Libero urplötzlich eine Kämpferfigur. Rohde wurde sofort Kapitän und hatte auch das sagen an der Alster. Das ist der Beweis, daß Dörner immer im entscheidenden Moment das letzte Quentchen Glück gefehlt hat. Außerdem lief die Zeit nicht für ihn. Bei aller Geborgenheit beim DFB, Nationaltrainer wird er wohl nie werden. Dazu ist er einfach viel zu ruhig.